Elisabeth Oberndorfer

„It takes more energy to look back than to look forward“, predigte Coach Bennett am Ende meines Laufes. Es war eine harte Woche in meinem Halbmarathontraining, und mit seiner Weisheit brachte mich der Guided Run in der Lauf-App den Tränen nahe. Nicht wegen der körperlichen Schmerzen, sondern wegen der vielen Momente, an die ich mich in dieser einen Woche zurückerinnerte: Hätte ich in dieser Situation anders reagiert, wäre ich heute an Punkt B. Hätte ich diese Zeit besser genutzt, wäre ich heute woanders. Coach Bennett hat recht, diese Gedanken kosten sehr viel unnötige Kraft.

Meine Motivation, einen Halbmarathon zu laufen, kam zu Beginn aus purem Selbsthass. Eigentlich war Selbsthass für alles in meinem Leben der Antrieb. Als mein Snowboardtrainer vor einigen Monaten am Rande des Unterrichts sagte, ich solle einfach Spaß an der Sache haben, dachte ich nur: „Wenn ich nur irgendwie Spaß hätte, wäre ich heute nicht hier.“

Ich bin ein Systemfehler, Menschen wie ich gewinnen nicht. Die Gesellschaft hat seit meiner Geburt alles versucht, damit ich ihr nicht zu nahe komme. Als ich drei Jahre alt war, wurde ich mit Hemiparese diagnostiziert. Für meine Familie war es wahrscheinlich die Erklärung dafür, warum ich so tolpatschig war und meine Schmerzen beim Gehen nicht vortäuschte. Eine damit verbundene Fehlstellung in meiner rechten Hüfte wurde per OP korrigiert. Ich war jung, aber alt genug, um mich an das Gehen (und die Schmerzen dabei) vor der Operation zu erinnern – und daran, dass ich wieder gehen lernen musste. Adrienne Haslet, die beim Boston-Marathon 2013 als Zuseherin ein Bein verloren hatte, erzählte unlängst in einem Podcast über die Erfahrung, wieder gehen zu lernen. Es ist tatsächlich eine unbeschreibliche Erfahrung, für die sowohl Adrienne als auch ich wahnsinnig dankbar sind. Der Podcast erinnerte mich während meines Frusts außerdem daran, dass das Halbmarathon-Training für mich etwas anderes bedeutet als für die meisten, die solche Bewerbe laufen.

Das bringt mich zurück zur Gesellschaft: Dass ich als Mensch mit Behinderung ein Mensch zweiter Klasse bin, machten mir schon die Kindergartenpädagog:innen klar. Und ich wurde in der Schule bestätigt, als mich Lehrer:innen als krankes Kind bezeichneten und ich über Jahre hinweg im Wissen aller Erwachsenen um mich herum von Mitschüler:innen gemobbt wurde. So kam es also, dass Selbsthass mein Antrieb wurde: Wenn ich hässlich, behindert, dumm und ein Mensch zweiter Klasse bin, habe ich nichts zu verlieren, aber auch sonst keinen großen Ansporn zu gewinnen. Und so stürzte ich mich in Bildung und Karriere, um mich zumindest langfristig selbst erhalten zu können.

In einer Therapiesitzung vor drei Jahren wurde es mir bewusst: Ich hatte das System längst gehackt. Als behinderte Frau aus einer Arbeiterfamilie bin ich in der zweiten Management-Ebene der Medienbranche eine Ausnahme. Langsam verstand ich, dass „die da draußen“, über die in Redaktionssitzungen gesprochen wird, ich bin. Diese Erkenntnis veränderte mein Leben: Wenn ich es trotz aller Limitationen der Gesellschaft so weit schaffen konnte, wie weit könnte ich es noch schaffen? Oder ist mein Imposter-Syndrom absolut gerechtfertigt und ich muss das Feld räumen?

Mein Versuch, Snowboarden zu lernen, kam aus dieser Erkenntnis gepaart mit dem effektiven Selbsthass. Anstatt mich auch die zweite Hälfte meines Lebens dafür zu hassen, dass ich es nie versucht hatte, versuchte ich es einfach. Und im Gegensatz zu meiner Kindheit, als eine Lehrerin gefühlt innerhalb von Minuten genervt von meinen Skifahrversuchen war, fand ich jemanden, der Geduld mit mir hatte. Auch wenn Coach Bennett nicht will, dass ich zurück blicke, frage ich mich: Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich als Kind jemanden um mich gehabt hätte, der oder die Geduld hatte und mich fördern wollte?

Diese Frage bringt mich zum Halbmarathon: Im vergangenen Winter lernte ich zumindest so gut Snowboarden, dass ich mir dabei den Arm brach. Weil das eine Pause fürs Krafttraining bedeutete, brauchte ich eine neue Challenge. Einen Halbmarathon also. Wenn ich in den 14 Wochen Training Leuten davon erzählte, bekam ich meistens die Antwort: „Ich könnte das nicht!“ In meinem Kopf antwortete ich leise: „Wenn ich das mit einer Halbseitenlähmung kann, kannst du das auf jeden Fall.

Das ist jedoch nicht richtig. Das Training für und der Halbmarathon selbst verlangen in erster Linie mentale Kraft. Den Körper richtig zu bewegen, ist nur ein Bruchteil der Geschichte. Meine mentale Stärke hatte ich zum einen schon durch jahrzehntelanges Überschreiten der gesellschaftlichen Grenzen trainiert, aber vor allem in der Trainingsphase. Was aus Selbsthass begann, setze ich irgendwann fort, weil ich Spaß daran hatte. Nicht daran, dass ich mein rechtes Bein beinahe täglich überzeugen musste, nicht aufzugeben. Aber Spaß daran, mit jedem Lauf die eigenen Grenzen zu überschreiten. War zu Beginn des Trainings ein 13-Kilometer-Lauf ein Long Run, war die gleiche Distanz später eine willkommene Erholung, nachdem ich schon so viel weiter gelaufen war.

Der Halbmarathon selbst war enttäuschend, ich war mit meiner Performance nicht zufrieden. Aber ich wusste schon davor, dass die Reise bis zur Startlinie wichtiger war als die Ziellinie. Während der vielen Trainingsstunden auf der Straße fragte ich mich oft, was alles noch möglich sein könnte, welche Grenzen ich noch durchbrechen könnte.

Seit dem Finish spinne ich den Gedanken weiter. Was, wenn ich mehr Energie dafür aufwende, nach vorne und nicht in die Vergangenheit zu blicken. Und was, wenn ich dabei nicht Selbsthass, sondern Spaß hätte? Ist Freude am Ende eine bessere Motivation als Hass?

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